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Ursula Kraft

Der Sohn des Königs

128 Seiten
Hardcover/Fadenbindung; 11,70 EUR
ISBN 978-3-936156-18-8
ab 8 Jahren


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König Sirr wünscht sich nichts sehnlicher als einen Thronfolger. Als sein Sohn Viktor geboren wird, entspricht dieser leider gar nicht seinen Vorstellungen.
Der sensible Junge ist nicht sehr kräftig und auch nicht besonders tapfer ­also alles andere als eine Kämpfernatur. Alle Versuche, aus ihm einen "richtigen" Prinzen zu machen, schlagen fehl. Die Härte des Vaters verletzt Viktor eines Tages so sehr, dass er sich zur Flucht entschließt.
Außerhalb der Schlossmauern eröffnet sich ihm eine ganz neue Welt! Ein Abenteuer nach dem anderen stürzt auf ihn ein. Tapfer stellt sich Viktor den schwierigen Aufgaben und findet dabei wunderbare Freunde. Er ist auf dem Weg, ein hervorragender König zu werden und wächst allmählich über sich selbst hinaus...


„...Ursula Kraft vermag es auf bezaubernde Weise, die großen Wahrheiten des Lebens in ihren Geschichten aufzuzeigen...
Sehr empfehlenswert.”
- AJuM (GEW)

Sehr empfehlenswert
- Jugendschriftenausschuss (BLLV)

„...Ursula Kraft erweist sich in ihrem phantastischen, märchenhaft angelegten Kinderroman voller herrlicher Abenteuer und prachtvoller Natur- und Menschenschilderungen als Erzähltalent...
Sehr empfehlenswert.”
- Prof. Dr. Hans Gärtner

„...Spannender Lesestoff für Kinder ab 7.”
- bn.bibliotheksnachrichten


Leseprobe aus dem Buch "Der Sohn des Königs"

Sein Boot lag noch genauso im Schilf, wie er es verlassen hatte. Er zog es heraus, verstaute alles sorgfältig und wollte es gerade ins Wasser schieben, als er kurz geblendet wurde. Er ließ seinen Blick über die Oberfläche des Sees wandern, denn er vermutete, dass das Blinken von dort gekommen war. Da! Wieder blitzte es kurz auf und diesmal sah er genau, woher es kam. Nicht vom Wasser, sondern aus dem Wald, der sich am Westufer erstreckte. Jetzt blinkte es sogar dreimal hintereinander auf! Was war das? Ein Signal? Aber für wen? Viktor wurde neugierig. Schon stand sein Entschluss fest: Dorthin wollte er rudern und erkunden, was da mitten im Wald aufleuchtete! Sein Boot glitt ins seichte Wasser und mit kräftigen Schlägen ruderte er dem Westufer entgegen.
Nach ungefähr zwei Stunden erfasste ihn eine schwere Müdigkeit. Er zog die Ruder ein und legte sich ins Boot. Die Plane diente ihm als Kopfkissen und er fühlte sich sehr, sehr wohl.
Er schlief abgrundtief und lange, bis er von einem leichten Nieselregen geweckt wurde. Schnell breitete er seine Plane über sich und schaukelte gemächlich mit seinem Schiffchen auf dem See. Er ließ die Hand ins Wasser hängen und das lauwarme Seewasser fühlte sich angenehm an. Plötzlich spürte er etwas Hartes zwischen seinen Fingern. Noch bevor er nachsehen konnte, was es sein könnte, war es ihm schon wieder entglitten.
Aber er war neugierig geworden, beugte sich über den Bootsrand und fischte nach dem Gegenstand. Da! Da schwamm etwas Rundes, Braunes... Es hatte die Form einer Nuss!
„Die Heilnuss!!“, schrie eine Stimme in seinem Kopf. „Ich hab sie gefunden! Sie wurde von der Insel ins Wasser gespült. Ich muss sie erwischen! Unbedingt und sofort!!“
Er krempelte die Ärmel seiner Jacke hoch und fischte im Wasser. Die Nuss schaukelte in den Wellen des Bootes direkt vor ihm, aber es war unmöglich, sie zu fassen. Immer ungeduldiger griff er ins Wasser. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als diese wunderbare und einmalige Nuss zu ergreifen und zu besitzen.
„Und wenn ich in den See muss – ich hol sie mir!“, dachte er. Er blickte sich um. Während seines stundenlangen Schlafes hatte sich das Schiff dem Westufer genähert. Viktor konnte bereits die Bäume voneinander unterscheiden. Vielleicht war das Wasser hier schon seicht? Vielleicht hatte man Boden unter den Füßen? Die Nuss entfernte sich allmählich. Das durfte nicht passieren! Vorsichtig ließ er sich über den Bootsrand ins Wasser gleiten. Sein Lehrer hatte ihm zwar gezeigt, wie man schwimmt, aber er war weit davon entfernt, es zu beherrschen.
Er klammerte sich am hölzernen Rand fest, hatte aber jeglichen Überblick verloren. Wo war die Nuss?
Ah, da schwamm sie – ein Stück weit entfernt! Er musste loslassen, sonst hatte er keine Chance, sie zu ergreifen. Kaum hatte er die Hand vom Bootsrand gelöst, verlor er alle Sicherheit. Er strampelte und platschte, ging unter, schluckte Wasser, tauchte wieder auf, entdeckte trotz seiner Not plötzlich die Nuss, griff nach ihr und ging unter...

Draußen am Ufer beugte sich gerade in diesen Minuten eine Frau über den Wasserspiegel. Sie konnte es nicht lassen, sich selbst immer und immer wieder zu betrachten – egal, ob in einem echten Spiegel oder in einer Pfütze, in einem Fenster oder in der glänzenden Oberfläche dieses Sees. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und lächelte sich wehmütig zu. Dann erhob sie sich, schaute übers Wasser –
und erschrak. Was war das? Trieb da ein Mensch?
Sie wurde blass und stürzte sich mitsamt ihren Kleidern ins Wasser. Zuerst watete, dann schwamm sie bis hin zu Viktor, der hilflos im Wasser umhertrieb. Aber er lebte! Das sah die Frau sofort. Sie zog ihn an den Strand, massierte seine Brust und schon ein paar Minuten später schlug er die Augen auf. Er sah die Frau und flüsterte: „Ich hab sie!“
„Was? Was hast du?“
„Die Heilnuss! Die Zaubernuss!“ Viktor hob seine rechte Hand. Er hatte sie um die Nuss zu einer Faust geballt und so fest zugedrückt, dass seine Finger kalkweiß geworden waren. Nun versuchte er, die Faust zu öffnen, doch es gelang ihm nicht.
Vorsichtig streckte die Frau seine Finger und sah die hellbraune, glattschalige Frucht.
„Das ist die Heilnuss, wegen der du fast ertrunken wärst?!“
„Ja, aber es hat sich gelohnt, sie herauszufischen. Sie kann so vieles retten.“
„Dir hat sie fast den Tod gebracht“, sagte die Frau ernst. „Ich muss dich enttäuschen: Das hier ist keine Heilnuss. Wir haben hier in unserem Wald einen jungen Heilnussbaum, der heuer – nach sieben langen Jahren – das erste Mal Früchte trägt. Und die sehen anders aus...“
Viktor starrte sie entgeistert an. „Aber was ist es dann?“ Noch während er diesen Satz aussprach, wusste er, zu welcher Pflanze dieser Samen gehörte...
„Wir müssen diese Nuss sofort verbrennen!“, rief er, „sonst geht das Unglück hier weiter!“
„Steck sie ein und pass gut auf sie auf“, sagte die Frau. „Wir gehen jetzt erstmal zu meinem Haus und dort erholst du dich in aller Ruhe von deinem Schrecken. Und wir können uns trockene Sachen anziehen.“ Sie zeigte zum Wasser und lachte. „Schau, da kommt dein Boot!“
Tatsächlich strandete das Boot gerade und die beiden zogen es schnell ans Land. Viktor nahm seinen Rucksack und ging neben der Frau zum Wald.
„Danke, dass Sie mich gerettet haben!“
„Darüber freu ich mich genauso wie du“, antwortete sie, strich sich ihre feuchten, braunen Haare aus der Stirn und klopfte dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter. „Jetzt bin ich gespannt, wie es dir bei mir gefällt.“ Viktor blickte sie von der Seite her an und dachte: „Komisch, sie hat doch eben noch jünger ausgesehen...“

Nach kurzem Fußmarsch durch ein lichtes Waldgebiet standen sie plötzlich vor einem sehr seltsamen Gebäude. Alle Wände ringsum waren mit Spiegeln besetzt. Sogar das Dach blinkte und blitzte. Viktor war sofort klar: Das war genau der Platz, zu dem er gewollt hatte. Das geheimnisvolle Signal!
Sie betraten das Haus und Viktor staunte. Nicht nur außen, sondern auch in den Innenräumen war alles verspiegelt! Der Prinz trat vor einen der Spiegel hin und schaute hinein. Er sah – nichts! Nichts von seinem Gesicht, nichts von seiner tropfnassen Kleidung. Nichts!
Fassungslos drehte er sich zu seiner Gastgeberin um und bemerkte, dass ihr Gesicht von vielen kleinen Falten durchzogen war. Auch ihr Haar hatte die Farbe gewechselt: Es war nun so grau wie die Fallschirmchen des Löwenzahns. In Viktor kroch eine unbestimmte Angst hoch. Wieder eine Gefahr? Wer war diese seltsame Frau, die ihr Aussehen so schnell änderte wie ein Chamäleon die Farbe?!
Die Frau ging zu einer Kommode und nahm aus der Schublade eine kleine, scharfkantige Spiegelscherbe. „Da kannst du dich anschauen, wenn du unbedingt möchtest. Ich würde es dir nicht empfehlen, aber du willst es offensichtlich nicht anders.“
Viktor nahm die Scherbe und warf zögernd einen Blick hinein. Er erschrak bis in sein Innerstes. Ein bleiches, schmales Gesicht mit tiefen, blauen Ringen unter den Augen blickte ihn an. Kein Zweifel – das war er! Was ihm aber trotz seines Schreckens sofort auffiel, war der Glanz in seinen Augen. Normalerweise standen sie wie zwei mattgraue Kiesel in seinem Gesicht, aber heute strahlten sie wie frisch polierte Steine!
Viktor bekam trockene Kleider, die ihm viel besser passten als seine alten. Die Schuhe waren ihm sehr eng geworden, die Hose war zu kurz und auch die Jackenärmel sahen wirklich lächerlich aus. Seine neue Jacke war – genau wie die alte –
aus wunderschönem rotem Samt und die weiche, grüne Hose passte ihm perfekt!
„Komm und stärke dich“, lud ihn die Spiegelfrau ein, „du hast doch bestimmt Hunger und Durst.“
Er erinnerte sich, dass er das letzte Mal im Boot ein wenig von seinen Vorräten gegessen und aus seiner Flasche getrunken hatte.
Die beiden betraten einen kleinen Raum. Auf einem weichen Teppich stand ein niedriger Tisch mit feinsten Speisen und ein großer Teller voll mit Früchten. Die Frau bot Viktor ein gemütliches Sitzkissen an und ließ sich ihm gegenüber nieder. Alle Wände des Raumes waren ebenfalls mit Spiegeln belegt, in denen sich jedoch nicht das Zimmer und die Einrichtung widerspiegelten, sondern ganz andere Dinge...
An Viktor zogen Bilder vorüber, die ihm zum Teil bekannt, andererseits aber auch völlig fremd waren. Während er gedankenverloren die köstlichen Sachen in seinen Mund wandern ließ, schaute er wie gebannt auf diese Wände.
Auf seiner rechten Seite beugte sich gerade eine Frau über einen Korb. Darin lag ein neugeborenes Kind mit gelocktem Haar. Plötzlich erkannte er die Frau: Es war seine Mutter! So hatte sie ausgesehen? So glücklich? So jung? So schön? Wenn das seine Mutter war, dann war das Kind in dem Korb –
er selbst! Sein Herz schlug rasend schnell vor Aufregung...
Plötzlich knallte es! An der Wand auf der linken Seite schlug ein Mann mit einem goldenen Löffel mitten in einen gefüllten Teller. Viktor zuckte zusammen und wurde ganz steif vor Schreck. Wie ein plötzlicher Schmerz war die Erinnerung da. Der Mann starrte ihn an, hielt ihn fest, stieß ihn auf den Stuhl zurück, schrie...
Bevor Viktor sich in seine Angst fallen lassen konnte, betrat im Spiegel vor ihm ein älterer Mann den Raum. „Lieber Herr Nuss!“, schrie der Junge von seinem Kissen aus. Eigentlich wollte er aufspringen, aber dann blieb er sitzen. Es war ja nur ein Bild – ein Bild in einem Spiegel! Und doch hatte er das Gefühl, als ob ihm jemand über die Haare streicheln würde. Er wurde wieder ruhig.
Auf einmal spielte an der rechten Wand eine Gruppe Kinder mit einem großen Wagenrad aus Holz. Sie schubsten es an und versuchten, es am Laufen zu halten. Es durfte nicht trudeln, nicht fallen... Die drei Brüder waren auch mit dabei. Sie kreischten, rauften miteinander und vertrugen sich wieder. Viktor schmunzelte. Ja, genauso waren sie – seine Freunde.
Plötzlich tauchte Fanny auf! Fanny mit ihrem roten Kleid und dem braunen Zopf! Die Jungen machten ihr Zeichen und winkten ihr, dass sie doch mitspielen sollte. Aber Fanny schüttelte den Kopf und rannte weiter.
Nun winkte sie jemandem zu, strahlte über das ganze Gesicht und rannte zu einem Jungen hin. Viktor spürte einen Stich in seiner Brust. Wer war das? Über wen freute sich Fanny da so sehr? Der Junge drehte sich um und Viktor sah, dass er selbst es war! Er selbst – ungefähr so alt wie Fanny... Ihm stockte der Atem. Fanny meinte ihn. Ihn ganz allein! In diesem Augenblick spürte er, dass er sich in seinem ganzen Leben noch nie so gefreut hatte, dass er noch niemals vorher so glücklich gewesen war. Schweigend blieb Viktor auf seinem Kissen sitzen.

Er erwachte am nächsten Morgen in einem Bett aus Samt und Seide und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er da hineingekommen war. An seinem Bett stand eine junge, bildschöne Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren. Strahlend reichte sie ihm eine Tasse heißen Pfefferminztee.
„Guten Morgen!“, sagte Viktor verlegen. „Wir haben uns gestern gar nicht kennengelernt.“
Die junge Frau lachte laut. „Was meinst du denn, wer ich bin?“
„Die Tochter der Hausbesitzerin?“, vermutete der Junge vorsichtig.
„Falsch! Ich bin die, die dich gestern aus dem Wasser gezogen hat.“ Und als Viktor sie ratlos anblickte, sagte sie: „Ich bin jung und ich bin alt, Viktor. Du kennst jetzt meine verschiedenen Gesichter. Am Morgen bin ich ein kräftiges, junges Mädchen, während des Tages nimmt mein Alter zu, aber meine Kräfte nehmen allmählich ab. Und abends gehe ich als kluge, alte Frau zu Bett. Eigentlich will ich nicht wissen, wie ich gerade aussehe, aber ich kann es dann doch nicht lassen, immer wieder in einen Spiegel zu sehen – und wenn es nur eine kleine Scherbe ist.“
„Sie sehen schön aus“, sagte Viktor, „sehr schön!“
„Nicht lange. Schon bald fühle ich die ersten Falten in meinem Gesicht. Der Glanz meiner Haare nimmt ab... Ich – ich ertrage das nicht...“
„Aber jeder Mensch wird doch älter. Keiner kann für immer jung bleiben.“
„Ich schon!“
„Und wie machen Sie das?“
Die Spiegelfrau zeigte auf eine Wand, die mit einem schweren Vorhang verhängt war. „Dahinter liegt mein Geheimnis.“ Sie senkte ihre Stimme. „Es ist ein ganz besonderer Spiegel, Viktor. Wenn ich mich am Morgen darin betrachte, sehe ich wieder so jung aus wie damals – als Zwanzigjährige. Ich brauche niemals Angst vor dem Alter zu haben.“
Viktor wusste nicht, ob er die Frau bewundern oder bedauern sollte. Irgendetwas machte ihn traurig, wenn er in ihr glattes Gesicht schaute. „Wo kann man denn so einen Spiegel kaufen?“, fragte er.
Sie lächelte. „Den kann man nicht kaufen. Ich habe ihn geschenkt bekommen – von meinem Mann. Er war ein berühmter Glasmacher und wir lebten hier gemeinsam in diesem Häuschen. Eines Tages gelang ihm die Erfindung seines Lebens: Er konnte Spiegel anfertigen, in dem sich das Leben widerspiegelte – die Vergangenheit, die Gegenwart, aber auch die Zukunft. Du hast es ja gestern Abend erlebt.“
„Und der Spiegel hinter dem Vorhang?“, wollte Viktor wissen.
„Diesen Spiegel hat er für sich selbst gemacht. Er wollte nicht älter werden und – er wollte jeden Tag eine junge, schöne Frau haben. Anfangs bin ich nur einmal im Monat vor den Spiegel gegangen, aber bald konnte ich es nicht mehr lassen, mich täglich jung zu sehen. Und das ist bis heute so geblieben...“ Sie schwieg und sah Viktor traurig an.
Der sagte: „Ich finde, Sie sehen auch am Abend sehr schön aus. Ich an Ihrer Stelle würde versuchen...“
„Das habe ich, aber es gelingt mir nicht.“
Schweigend setzten die beiden ihr Frühstück fort. Sie saßen am gleichen Tischchen wie am Abend zuvor und Viktor bekam auch heute eine fürstliche Mahlzeit – ganz wie im Schloss, nur war es viel, viel gemütlicher. Angst vor seiner Gastgeberin hatte er nun überhaupt nicht mehr. Er wusste ja jetzt, was ihm an ihr so unheimlich vorgekommen war.
„Und Ihr Mann?“, fragte er. „Wo ist der jetzt?“
„Er konnte sich rechtzeitig vor seinen Spiegeln retten. Eines Tages ist er verschwunden und hat sie mir zurückgelassen.“
Plötzlich begann Viktor, heftig zu husten und zu röcheln. Er hatte sich an einem Bissen Weißbrot verschluckt, denn ihm war etwas eingefallen. Er schrie: „Die Nuss! Wo sind meine Kleider? Sie war in meiner Hosentasche! Vielleicht ist sie nicht mehr da!?“ Er war außer sich.
„Warte! Warte!“, rief die Frau. Sie sprang auf und brachte ein eisernes Kästchen. Es war verschlossen und als sie es mit einem zierlichen Schlüssel geöffnet hatte, sah Viktor drinnen seinen Fund liegen: den hellbraunen, glatten Samen der Malefizia! Er war ungeheuer erleichtert.
„Nach dem Frühstück verbrennen wir diesen Unglücksbringer“, sagte die Spiegelfrau und schenkte ihm seine Tasse nochmal voll mit duftendem Tee. „Und jetzt beruhige dich.“
Alle Spiegel waren heute blank und ohne Bilder. Er erinnerte sich an den gestrigen Abend. Seine Eltern fielen ihm ein, seine Freunde, Fanny...
Als er ein wenig später aus dem Zimmer ging, nahm er einen Spiegel wahr, den er bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Er hing über der Tür. Verblüfft schaute Viktor hinein. Er erkannte ganz deutlich seinen Vater und seine Mutter! Sie standen auf dem Südbalkon und schauten voller Unruhe und Sorge in die Ferne. Die Mutter schien zutiefst betrübt zu sein und der Vater hatte einen missmutigen und störrischen Gesichtsausdruck. Viktor seufzte. Machten sich seine Eltern Sorgen um ihn – oder eher um den rauchenden Berg? Vermissten sie ihn überhaupt...? Die Spiegelfrau strich ihm über die Haare. Ihr Gesicht war reifer geworden, ihre Augen milder. Der Prinz fühlte sich in ihrer Gegenwart jetzt noch wohler und geborgener als am Morgen.

Als sie das Haus verlassen wollten, ging Viktor aus Versehen zur falschen Tür. Er drückte die Klinke nieder – die Tür war verschlossen. In diesem Moment schrie die Frau auf und packte ihn am Arm. „Weg von hier!“, kreischte sie. Sie war bleich geworden und sah erschreckend fahl aus. Doch sie fing sich schnell wieder und sagte: „Komm, wir wollen die Nuss verbrennen.“
Schon bald flackerte vor dem Haus ein Feuerchen – groß genug, um die Frucht dieser unheilbringenden Pflanze zu vernichten. Viktor war verstört. Sein Arm schmerzte und der Schreck saß ihm noch in den Gliedern. Und jetzt hielt er auch noch diese fürchterliche Nuss in der Hand. Zitternd legte er den harten Samen in die Flammen. Sofort begann ein unheimliches Knacken. Die Schale platzte auf und kräuselte sich. Die Nuss stieß einen spitzen, hohen Pfiff aus! Und stank gewaltig! Dann war alles still.
Die Zeit des Abschieds war gekommen. „Leb wohl!“, sagte die Frau und nahm Viktor in die Arme. „Und bleib so, wie du bist. Du bist ein tapferer, mutiger Junge und alle wissen, dass du ein wunderbarer König sein wirst.“
„Woher wissen Sie...?“, fragte der Prinz unsicher.
„Jeder kennt dich. Und jeder schätzt dich, Viktor. Und nun geh und wenn du einem älteren Mann mit einem großen Hut begegnest, dann grüß ihn von mir – von seiner Nea. Sag ihm, dass ich ihn bald besuchen werde. Und du: Verlier dein Ziel nicht aus den Augen!“
Noch bevor Viktor Genaueres erfragen konnte, war die Spiegelfrau in ihrem glänzenden Haus verschwunden.
„Mein Ziel?“, dachte Viktor. „Was ist denn eigentlich mein Ziel?“


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