Teil II
Die Finsternis
Ein dunkelroter Streifen des letzten Tageslichtes brachte den Himmel zum Glühen, als ich mich am Abend auf den Weg machte. Ich hatte weder meine Hausaufgaben erledigt noch für die morgige Mathearbeit lernen können. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um die todkranke Schere und den mysteriösen Scherenschleifer. Bewaffnet mit meiner dicken Winterjacke, traf ich Jussuf an unserem Gartentor. Auch er hatte seine Jacke und vorsichtshalber seine Mütze mitgebracht.
„Vielleicht reisen wir in die Arktis“, hoffte ich und erinnerte mich an das großartige Schneeglitzern und den eisigen Nordwind. Jussuf wollte mir meine Hoffnungen nicht nehmen und gab nur ein unverständliches Murmeln von sich.
Schon von Weitem erkannten wir auf der Alten Straße Joshua und seine Mutter. Vor der Tür des Blauen Salons begegneten wir ihnen und traten gemeinsam ein. Luigi und Alma hasteten geschäftig umher und bemerkten uns erst, als ich die Tür lautstark hinter uns schloss.
„Gut! Ihr seid pünktlich!“, sagte Luigi und stellte eine kleine Öllampe auf den Tisch, auf dem schon vier weitere Lampen standen.
„Setzt euch!“, forderte er uns auf, doch als ich den Sessel ansteuerte, schüttelte er den Kopf. „Nein! Setzt euch auf den Boden. Bildet einen Kreis!“ Seine knappen Anweisungen verwandelten meinen Magen in eine dunkle Grube, die sich unheilvoll bemerkbar machte und meine Hände zittern ließ.
Wir setzten uns und beobachteten, wie Luigi die Lampen anzündete. Sie verströmten ein gelbes, warmes Licht und mir stieg der seifige, scharfe Geruch des Öls in die Nase. Neben mir saß Joshua, auf der anderen Seite Jussuf und ich griff nach ihren Händen. Alma hatte sich in einen braunen Wollmantel gehüllt und schlang sich einen dicken Schal um den Hals. Luigi drückte jedem außer Veronika
eine brennende Lampe in die Hand und machte sich ebenfalls reisefertig.
„Wozu brauchen wir die?“, fragte ich und hielt meine Lampe in die Höhe. „Wir bleiben doch hier und reisen nur in Gedanken. Genauso wie in die Arktis oder ins Gebirge!“
„Nein, Marie!“, erwiderte Luigi, „diese Reise findet wirklich statt und wenn wir unser Ziel erreicht haben, werden die Lampen vielleicht sehr hilfreich sein!“
Ich schluckte. Was für eine Reise stand uns bevor? Zum ersten Mal an diesem düsteren Tag stieg klare und heftige Angst in mir empor. „Ich könnte mich weigern“, dachte ich, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort. Wir mussten Luigi helfen, ihm und der blauen Schere, die für viele in unserer Stadt so hilfreich gewesen war. Meine Angst war groß, doch ich hatte keine Wahl. Erinnerungsfetzen tauchten hinter meiner Stirn auf. Jussuf, der mir an Mopsis Grab Papiertaschentücher reichte. Luigi, der mit der blauen Schere hinter mir stand. Ich hörte sein Lachen: „Für wen hältst du mich, Marie? Für einen ungeübten Messerwerfer?“ Alma, die mir ein himmelblaues Kleid nähte und dabei sang. Auch Joshua tauchte in diesen Splittern meiner Erinnerung auf. „Engel!“, rief er und schüttelte seine Locken vor dem Spiegel.
Würde ich mich jetzt weigern und diesen Kreis verlassen, weil ich mich von meiner Angst überwältigen ließ, hätte ich alles verraten, woran mein Herz wirklich hing. Ich hatte absolut keine Wahl, also setzte ich mich aufrecht hin und drückte Jussufs Hand, so fest ich konnte. „Gut!“, sagte ich. „Dann lasst uns aufbrechen!“
Luigi nahm das Fläschchen mit dem geheimnisvollen Öl und reichte es Veronika.
„Pass gut darauf auf!“, sagte er.
„Kommst du denn nicht mit?“, fragte ich Joshuas Mutter, die schon dabei war, das Fläschchen aufzuschrauben und ein wenig außerhalb unseres Kreises saß.
„Nein, sie wird auf uns warten und uns hoffentlich recht bald wieder in Empfang nehmen! Nur wir fünf können uns auf den Weg machen!“, erwiderte Luigi an ihrer Stelle und als ich den Mund öffnete, legte er den Finger auf die Lippen. „Keine Fragen mehr!“
Er nahm auf dem Holzboden zwischen Alma und Jussuf Platz.
„Nehmt die Lampe in eine Hand. Mit der anderen haltet ihr euch am Arm eures Nachbarn fest. Lasst ihn nicht los, bis ihr wieder festen Boden unter euch spürt. Habt ihr verstanden?“ Wir nickten.
Veronika beugte sich vor und hielt die geöffnete Ölflasche in die Mitte unseres Kreises.
„Ich zähle bis drei!“, kündigte Luigi an. „Haltet eure Nasen über das Duftöl und bei drei atmen wir gemeinsam ganz tief ein!“
Joshua hielt sich krampfhaft an meinem linken Unterarm fest. Ich spürte sein Zittern und hoffte inständig, er würde seine Lampe nicht fallen lassen. Ich selbst hielt mit der linken Hand die Lampe und klammerte mich mit der rechten an Jussufs Arm.
„Eins“, zählte Luigi, „zwei“ ich befreite meine Lungen von Luft „drei!“
Ich spürte die Köpfe meiner Freunde dicht an meinem und gemeinsam sogen wir einen herben, fremden Geruch in unsere Nasen ein. Verworrene Bilder schossen durch meine Gedanken, Lichtblitze erglühten hinter den geschlossenen Augenlidern und ein tiefes Brummen durchströmte meinen Kopf. Ich wirbelte empor wie ein Blatt des großen Ahorns vor unserer Schule in einem wilden Herbststurm. Ich drehte mich, war wundervoll leicht und ließ mich treiben und tragen von dieser Kraft, die mich aus Luigis Salon hinfortriss.
Immer noch hielt ich Jussufs Arm, immer noch umklammerte ich die Lampe und fühlte den Griff von Joshua auf meinem Arm. Diese festen Punkte waren das Einzige, das mir in diesem Auf und Ab, diesem Wirbeln und Fliegen, dem Steigen und Fallen eine Orientierung verlieh. Endlich ging es etwas ruhiger zu. Ich sank langsam hinab und mit einem leichten Ruck spürte ich den Boden unter mir.
Ich war sicher, das Luigi uns nur geneckt hatte. Wenn ich die Augen aufschlug, würde ich den Salon sehen, die braunen Ledersessel, die kleine Sitzecke, die herrlich gerahmten Spiegel und Veronika. Wir waren gar nicht gereist, wir hatten uns nicht aus dem Salon begeben. Die Reise war nur ein Spiel, ein abenteuerlicher Traum. Vorsichtig öffnete ich die Augen.
Im Schein der fünf Öllampen erkannte ich die Gesichter meiner Freunde, um uns herum jedoch herrschte tiefe Dunkelheit. Ich blickte nach oben, denn selbst in der schwärzesten Nacht konnte man gewöhnlich einen vom spärlichen Mondlicht erhellten Wolkenfetzen erkennen oder einen kleinen Stern entdecken. Doch da war nichts, gar nichts. Ein stetiger Wind blies und er war kalt. Er glich weder dem Nordwind, noch trug er den trockenen Duft gefrorener Erde oder den glasigen Geruch von Eis und Schnee. Er blies gleichmäßig in eine Richtung, als habe jemand in einiger Entfernung einen riesigen Ventilator in Gang gesetzt. Joshua wimmerte leise neben mir und dieses Geräusch machte mich nervös.
„Sei still!“, fuhr ich ihn an und Joshua verstummte erstaunlicherweise augenblicklich, doch ich spürte sein Zittern stärker als zuvor.
„Wo sind wir?“, fragte ich und Luigi stand auf.
„In der Finsternis“, sagte er und ich hätte ihn gerne ein wenig geschüttelt.
„Das habe ich bemerkt!“, rief ich ärgerlich. „Aber wo verflixt nochmal sind wir hier?“ Wir standen dicht nebeneinander und schwenkten die Lampen um uns herum. Außer dem sandigen Boden gab es nichts zu sehen.
„Der Scherenschleifer lebt in diesem Land und wir werden jetzt zu ihm gehen. Passt auf, dass keiner von uns zurückbleibt. Achtet auf Joshua!“ Mit diesen Worten wandte sich Luigi gegen den Wind und stapfte voran.
„Warst du schon einmal hier?“, rief Jussuf und gespannt erwartete ich die Antwort.
„Ja“, erwiderte Luigi, „aber das ist schon lange her!“
Mit jedem Schritt ging Stück für Stück mein Gefühl für die Zeit verloren. Monoton setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich hätte nicht sagen können, ob wir seit einer halben Stunde oder schon die halbe Nacht unterwegs waren.
„Luigi!“, rief ich. „Wie lange wird dieser unheimliche Ausflug dauern? Wir können nicht ewig hier bleiben. Unsere Eltern werden sich Sorgen machen und uns im schlimmsten Fall suchen!“
Luigi wandte sich um. „Nein, das werden sie nicht. Die Zeit läuft hier in anderen Bahnen. Wie viele Minuten oder Stunden wir in diesem Land auch verbringen werden, wird bei unserer Rückkehr keine Rolle spielen. Bei unserer Heimkehr werden sich die Zeiger der Uhr kaum bewegt haben!“
Das war zwar eine beruhigende Antwort, doch in meinem Kopf warfen Luigis Worte ein seltsames Echo. Minuten oder Stunden. Wie kam Luigi nur darauf, dass es mehrere Stunden dauern könnte, den Scherenschleifer zu rufen? Ich hoffte, dass wir den guten Mann so schnell wie möglich davon überzeugen würden, uns zu begleiten und die blaue Schere zu retten.
Alma hatte ihren Arm um Joshuas Schultern gelegt und Jussuf ging ganz dicht neben mir. Niemand sprach, wir folgten Luigi, zogen die Köpfe ein und schlugen die Jackenkragen höher, um uns gegen den gespenstischen, kalten Wind zu schützen.
Endlich blieb Luigi stehen und zeigte auf einen kleinen leuchtenden Punkt in der finsteren Ferne. „Dort“, sagte er, „dort lebt der Scherenschleifer. Wir haben es bald geschafft.“ Seine Schritte wurden schneller und wir mussten uns anstrengen, um ihm zu folgen.
Der kleine, leuchtende Punkt wurde größer und entpuppte sich schließlich als riesige Fackel. Ein Stück dahinter erkannte ich die dunkle Kontur eines gigantischen Gebäudes. Je mehr wir uns ihm näherten, desto stärker wurde ein herber Geruch, den der Wind zu uns herübertrug. Es war der gleiche Duft, der uns im Blauen Salon aus dem Ölfläschchen entgegengeströmt war. Er war nicht unangenehm, doch einordnen konnte ich ihn nicht. Es roch nach frisch gemähtem Gras, nach bitterer Orangenschale und ein wenig nach Kiefernharz und Zimt. Ich war froh, meinen Geruchssinn wieder gebrauchen zu können. Diese an Gerüchen leere Welt war schrecklich gewesen und ich begrüßte den Duft mit einem langen Seufzer.
Luigi blieb stehen und hob seine Lampe. Noch immer konnte ich nur einen dunklen Umriss vor uns erkennen und dieser hatte bei näherer Betrachtung eine seltsame Form.
„Hier wohnt er?“, fragte Jussuf. „Was ist das? Ein Schloss oder eine Burg?“
„Ein Zelt“, erwiderte Luigi, „und nun setzt euch hin. Wir werden warten müssen, bis der Scherenschleifer uns hereinbittet.“
Heiße Wut stieg in mir empor, die sich um mein Herz schloss und nach Freiheit verlangte. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“, hielt ich Luigi zornig entgegen. „Nach diesem grauenvollen Marsch durch diese schreckliche Gegend sollen wir auch noch warten, bis der hohe Herr sich bequemt und uns hereinbittet? Wie wäre es mit Klopfen, Klingeln oder lauthals Schreien?“ Entschlossen wandte ich mich in die Richtung des Zeltes und wollte losmarschieren.
Luigi packte mich am Jackenärmel. „Genug!“, rief er. „Setz dich hin, Marie, und sei still!“
Mit offenem Mund starrte ich mein Gegenüber an. In solch einem Ton hatte Luigi noch nie mit mir gesprochen. Jussuf zog mich sanft auf den Boden und mit wackeligen Beinen landete ich neben ihm.
„Entschuldige“, sagte Luigi, „ich wollte nicht so grob sein.“
Ich nickte nur. Wo war Luigis geliebtes Lächeln geblieben? Wo war das freundliche Blitzen seiner Augen hin?
„Er weiß, dass wir hier sind“, murmelte Luigi, „er ist der Herr dieser Wüste.“
Alma, die seit unserer Landung in dieser dunkelsten aller Nächte noch kein Wort von sich gegeben hatte, streckte die Schultern. „Na, wenn er alles weiß, der gute Herr, dann wird er doch wohl so höflich sein und uns so schnell wie möglich in sein Haus bitten. Wir haben immerhin einen langen Weg hinter uns, wir frieren und könnten einen heißen Tee sehr gut vertragen!“
Ich hätte am liebsten applaudiert, wollte Luigis Zorn jedoch nicht noch einmal zu spüren bekommen.
„Haltet euch zurück“, bat Luigi mit einem Zittern in der Stimme und er schüttelte resigniert den Kopf. „Der Scherenschleifer ist kein Gewöhnlicher. Er ist mächtig und wir sollten ihn auf keinen Fall herausfordern!“
Alma ließ sich davon kaum beeindrucken. „Mächtig hin, mächtig her“, raunte sie zurück. „Der Junge friert ganz erbärmlich!“ Sie rieb Joshuas Hände in ihren und hob erneut die Stimme: „Wenn ein Fremder vor meiner Tür sitzen würde“, fuhr sie lautstark fort, „würde ich mich sicher beeilen, ihm etwas Warmes anzubieten. Ich würde mich freuen, einen Gast willkommen heißen zu dürfen. Das ist doch selbstverständlich!“
„Oh, gütiger Himmel!“, stöhnte Luigi und schreckte auf. Ein lautes Rascheln drang zu uns herüber. Das Innere des Zeltes wurde hell und wir erschraken, als wir sahen, wie groß es war. Die zirkuszeltartige Kuppel wölbte sich weit hinauf und auf ihrer Spitze flatterte eine weiße Fahne im kalten Wind.
Mit einem Schlag erreichte uns eine helle Lichtflut. Wir kniffen die Augen zusammen und blinzelten. Aus dem Eingang des Zeltes floss blendend weißes Licht und ein großer Mann, ein wahrhaft riesiger Mann, blickte zu uns herüber.
„Ihr könnt einen Teller heiße Suppe bekommen!“, begrüßte er uns und seine Stimme klang wie ein Donnergrollen. „Der Tee ist mir leider ausgegangen.“
Diese Aufforderung klang freundlicher, als wir erwartet hatten und wir erhoben uns. Aufrecht schritten wir dem Riesen entgegen. Das helle Licht blendete und erst als ich direkt vor ihm stand, erkannte ich sein Gesicht. Er trug eine Narbe auf seiner rechten, braunen Wange. Sie zog sich vom Kinn durch seinen Bart bis zum Augenwinkel und ich schauderte. Seine schwarzen Augen musterten uns neugierig. Ein wenig erinnerte er mich an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, die ich früher verschlungen hatte. Aladin mit seiner Wunderlampe hatte mich immer fasziniert und dieser monumentale Kerl, der nun vor mir stand, hätte einen fantastischen Lampengeist abgegeben. Sein dunkelblauer Umhang wehte im monotonen Wind zur Seite und ich sah seinen breiten, purpurnen Gürtel mit einer riesigen Schnalle in Form einer Schlange. Alles an ihm war groß und fremd. Und auch der herbe Geruch nach Kiefern und Orangen war sehr stark. Der dunkle Gigant schien ihn auszuströmen und ich hätte ihn gerne berührt. Ich wollte seine Hand, sein Gesicht, seine Haut anfassen um herauszufinden, ob er warm war wie ein Mensch oder so kalt wie dieses Land.
Er trat zur Seite und forderte uns mit einer knappen Geste auf einzutreten. Der runde Raum, in dem wir standen, wurde von kreisförmig aufgestellten Fackeln erhellt, die alles in ein merkwürdig weißes Licht tauchten. Die Möblierung der Behausung war spärlich. Zehn große, rote Sitzkissen lagen um einen breitflächigen, niedrigen Tisch und eine alte, schlichte Truhe stand neben dem Eingang. Sonst war der Raum leer.
Der Scherenschleifer nahm auf einem der Kissen Platz und wir folgten ihm, setzten uns ebenfalls und starrten ihn an.
Er deutete ein Kopfnicken an. „Mein Name ist Bandellah ar Fareloon ol Gibschaladh. Ihr könnt mich Ban nennen.“
Artig nannten wir ebenfalls unsere Namen und als ich kundtat, dass mein Name Marie sei, horchte der Riese auf.
„Marie?“, wiederholte er fragend und fast glaubte ich Luigis Stimme zu hören, die mir weismachen wollte, dass Marie ein wundervoller Name sei, den nur wahrhaftige Königinnen trügen. Doch Ban nickte wortlos und wandte sich Joshua zu, der ihn stumm mit großen Augen anstarrte und keinen Ton hervorbrachte. Alma sprang helfend ein und strich ihm über die geröteten Wangen.
„Das ist unser Engel Joshua“, verkündete Alma und auch diesen Namen quittierte der Riese mit einem Nicken.
Ban klatschte drei Mal in die Hände und aus einem Seiteneingang, den wir zuvor nicht bemerkt hatten, sprang ein Hund. Er erinnerte an einen Husky, doch seine Augen waren schwarz wie die seines Herrn. Sein Fell war lang und kringelte sich unter dem Bauch zu kleinen Locken. Auch seine Größe war beeindruckend. Ich schätzte, dass wir uns Auge in Auge gegenüberstehen könnten, wenn ich mich aus meiner sitzenden Position erheben würde.
„Das ist Lhabu, mein Gefährte“, machte Ban uns mit dem Tier bekannt, beugte sich hinüber und murmelte dem Hund etwas zu. Dieser verschwand auf weichen Pfoten lautlos im Nebenraum und wir hörten es klappern, scharren und winseln. Mit einem freudigen Gurren und wedelndem Schwanz kam Lhabu zurück. In seinem Maul trug er einen Korb. Ban griff hinein und tischte schwungvoll auf. Die Suppe dampfte und obwohl ich nicht wusste, welche Zutaten sie enthielt, begann mein Magen, laut zu knurren. In einer dicken, dunkelgrünen Flüssigkeit schwammen kleine, weiße Bällchen und dunkelrote Beeren.
„Was ist das?“, wollte ich wissen und Luigi stieß mir verstohlen seinen Ellenbogen in die Seite. Er schien immer noch sehr darauf bedacht zu sein, dem Scherenschleifer mit äußerster Vorsicht zu begegnen und wollte mich für meine unhöfliche Frage tadeln. Ich aber konnte nichts essen, solange ich nicht wusste, was meine Suppenschüssel enthielt, obwohl mein Magen anderer Meinung zu sein schien und lautstark von mir verlangte, ich solle keine Fragen stellen, sondern ihn endlich mit dem Inhalt meiner Schüssel erfreuen.
Ban blickte kurz in meine Richtung. „Sandwurzelsuppe mit Sturmgemüse, was sonst, Marie?“
Ich nickte nur und tauchte meine Zunge in die Suppe auf meinem Löffel. Sturmgemüse? Sandwurzeln? Was immer das auch sein mochte, es schmeckte köstlich und die grüne Suppe verschwand, so schnell ich schlucken konnte, in meinem Bauch.
„Gut!“, befand auch Joshua seine Mahlzeit und Alma nickte heftig. Lhabu, der auf einem Sitzkissen neben seinem Herrn ebenfalls eine Portion Suppe verschlungen hatte, stand auf, schob mit der Pfote den Korb vor sich her und sammelte das benutzte Geschirr ein. Sehr behutsam griff er mit seinem mächtigen Maul nach Schüsseln und Besteck, verstaute alles mit gekonnter Präzision und trug den Korb schließlich hinaus.
Ban, der kein Freund großer Worte und höflicher Plaudereien zu sein schien, streckte sich ausgiebig. „Nun erzählt eure Geschichte!“, forderte er. „Warum seid ihr zu mir gekommen?“
Alle Blicke richteten sich auf Luigi, dem wir dieses Abenteuer verdankten.
„Die blaue Schere“, begann Luigi und verstummte wieder, als sei mit diesen drei Worten schon alles erklärt. Als sich der Scherenschleifer nicht rührte, fügte er unsicher hinzu: „ Du erinnerst dich doch an sie, nicht wahr?“
„Natürlich erinnere ich mich an die Schere. Ich erinnere mich auch an dich!“, donnerte Ban. „Nun komm endlich zur Sache!“
Luigi räusperte sich, doch seine Stimme klang immer noch zittrig und dünn. Er berichtete von dem plötzlichen, erschreckenden Verfall der Schere und seiner Hoffnung, Ban könne etwas dagegen tun.
„...Sie rostet und wird sterben. Bitte, komm mit uns und hilf ihr!“, beendete Luigi seine knappe Schilderung und sah den Scherenschleifer erwartungsvoll an.
„Die Schere rostet!“, wiederholte Ban grimmig und schüttelte den Kopf. „Was hast du mit ihr gemacht? Hast du sie gut behandelt? Hast du sie nach meiner Anweisung benutzt?“
Luigi zuckte zusammen. „Selbstverständlich!“, erwiderte er und ich war froh, die leise Entrüstung in seiner Stimme zu hören. „Ich habe vielen Menschen helfen können!“
Alma und ich bestätigten diese Behauptung mit zustimmendem Gemurmel...